Wozu Geschichte?
Gedanken zum Thema „Zeit“ ….
Wozu hat oder braucht man Geschichte? Was bedeutet sie hier und jetzt in der Gegenwart?
Ich glaube, die Geschichte weitet die Gegenwart und löst sie von den Augenblicken, denen wir im Alltag ausgeliefert sind. Die Vergangenheit ist dauerhafter als der Augenblick. Sie stiftet Zeit-Räume, schafft Kontinuen, die flüchtigen Augenblicken im Bewußtsein einen Wohnort geben und Sinn stiften. Jeder hat so seine eigene Lebensgeschichte und sein eigenes Weltbild und Bewusstsein. Hierauf baut dann das Geschichtsbild auf, das Menschen in Gesellschaften verbindet. Die bewusstgemachte Vergangenheit liefert mit den so gespeicherten Erlebnissen und Erfahrungen den Rohstoff für die Arbeit an ihrem Spiegelbild: an der Zukunft, einem berechneten oder erhofften, also einem rein spekulativen Wesen.
Die Vereinigung der rekonstruierten Vergangenheit und der konstruierten Zukunft, beides zusammen ergibt Geschichte. Mit ihr „erfinden“ wir das, was wir unsere Welt nennen. In der Zeit, in der wir sind, im „Sein“, ist Vergangenheit das, was es gab, und Zukunft das, was es noch nicht gibt. Im Nachdenken über die zu erfindende Zukunft wird geradezu unvermeidbar die zu findende Vergangenheit „lebendig“ als Kraft, die das alltägliche Handeln und Verhalten prägt. Wer Ruhe und Stabilität liebt, mag von Tradition sprechen und das Erfinden verbieten. Andere reden von Weltbildern oder vom Geschichtsbewußtsein und sie verlangen, das das Gefundene auf sein ErfundenSein zu überprüfen ist. Der Philosoph gibt dem Phänomen, um das es hier geht, einen schlichten Namen: er nennt es Sein und Zeit.
Durch das Sein „ist“ man und der Zeit, in der man „ist“, kann man nicht ausweichen. Sie ist ein „Schicksal“. Sie ist alles: die Existenz, das „Leben“.
Der Zeit als Geschichte nachzuspüren, kann helfen, mit dem „Geschick“, mit dem Dasein besser klar zu kommen, wenn man versucht, aus dem was war, für das was kommt, etwas mitzunehmen und zu lernen. Das Bild der Geschichte ist aber für jede Zeit von jeder Zeit neu zu zeichnen. Geschichte ist ein „Wesen“, das nicht einfach da ist, es bildet sich und es lebt in uns als Bildung. Es lebt in all seiner Weite und Breite immer aus der Aktualität und es wird in ihr erlebt. Nicht nur die „Zeitgeschichte“ ist „aktuell“. Geschichte insgesamt – als Gespür für die Zeit – ist von der Aktualität abhängig. Der Raum, in dem sie zum Teil des Alltagslebens wird, wächst mit der Menschheit und ihrem Wissen über eine gemeinsame universale Weltzeit, eine Weltgeschichte, deren Umfang und Reichtum immer unendlich bleiben wird. Doch so wie Geschichte im Augenblick, der sie erschafft, verschwindet, so tritt sie auch immer in den verfügbaren „Quellen“ plötzlich wieder aus ihrem „VerschwundenSein“ heraus.
…. und zur alemann’schen Familiengeschichte
Zwei Ackergrundstücke führten mich so zurück in eine über 700-jährige Familiengeschichte und ich ging auf Spurensuche in der Stadt, wo sich der wichtigste Teil dieser Geschichte abgespielt hat. Dabei besuchte ich auch den Direktor der Magdeburger Bibliotheken, in dessen Arbeitszimmer gerade einige Centurien-Bände auf Inspektion warten. Sie gehörten wohl ganz sicher zu den Werten, um die sich die Stiftung kümmern sollte, weil ja ein Ebeling Alemann sie mit herausgegeben und finanziert hat. Doch ich konnte damals mit ihnen wenig anfangen. Das Thema war mir zu speziell und zu religiös.
Heute drängt sich das Thema Religion mit Gewalt wieder in die täglich spürbare „Zeitgeschichte“. Religiöse Fundamentalisten melden wieder einmal Herrschaftsansprüche an. War das nicht auch so vor dem Dreißigjährigen Krieg? Ich jedenfalls frage mich: Wie kann man als aufgeklärte Weltbürger Religionskriege vermeiden? Solche Fragen machten die Centurien für mich wieder interessanter. Sie sind mir jetzt wichtiger als all die anderen oft besprochenen großen kriegerischen Ereignisse im Magdeburg des 16. und 17. Jahrhunderts.
Ich hatte mich daher sehr über die Einladung zu der Tagung vom 10/11.1.2005 zu den Magdeburger Centurien in Magdeburg gefreut. Sie weckte mein Interesse an der Reformationszeit – gerade in Magdeburg, einem der damaligen Zentren der Dogmatikerkriege. Das Lutherjahr und die Veröffentlichungen zum Thema Magdeburg und die Reformation sind ein weiterer Schritt, sich der Stadtgeschichte aus der Perspektive der Familiengeschichte zu nähern. Die 51. Guericketagen am 25/25. 11. 2017 machten die Rolle der Ratsfamilien in der Reformation zu ihrem Thema, wozu auch wir einen kleinen Beitrag liefern konnten.
Der Bezug der damaligen Dogmatikergefechte und der Religionskriege zum heutigen Fundamentalismus bleibt natürlich eine persönliche Assoziation. … aber ich glaube fest daran, dass das Thema irgendwann einmal in einem geeigneten Forum vertieft werden muss. Ich glaube fest daran, dass eine genauere Analyse der Dogmenkriege der Reformationszeit helfen kann, besser mit den Religionskriegern und ihrem Fundamentalismus klar zu kommen. Das ist zumindest aktuell meine stärkste Motivation zur Beschäftigung mit „meiner“ Familiengeschichte.
Dietrich von Alemann
Bergisch Gladbach, den 13.11.2005 und dann: Berlin, den 6.3.2017